Teufelskreis von Nähe und Distanz

nach Friedemann Schulz von Thun

Beide Bedürfnisse sind im Menschen vorhanden: im komplexen dynamischen Wechselspiel dieser Bedürfnispolarität entfaltet sich die zwischenmenschliche Beziehung und nicht selten geht sie im Strudel dieser Gegensätzlichkeit zu Grunde.

Die Phase der Verliebtheit, der anfänglichen Faszination füreinander, ist geprägt von dem Bedürfnis nach Nähe, der Distanzwunsch scheint zurückgedrängt. Dann aber meldet er sich, meist wird es einem der beiden Partner nach einer Weile zu eng: er/sie möchte nun gern einmal für sich sein, mit anderen Leuten Kontakt haben, einmal wieder im eigenen Bett schlafen, eine Weile den anderen nicht um sich haben, das ständige oder häufige aufeinander hocken macht nun ganz kribbelig. Vielleicht drückt er das direkt aus, vielleicht behält er solche ketzerischen Gefühle noch eine Weile für sich, sei es, um den anderen nicht zu enttäuschen, sei es, um sich selbst die damit verbundenen Ernüchterungen nicht einzugestehen - jedenfalls merkt der Partner, dass der andere äußerlich oder innerlich auf Distanz geht.

Vielleicht wäre es bei ihm eine Sekunde später auch so gewesen, aber nun ist der andere zuvorgekommen und löst zumindest in Spurenelementen jene Angst vor dem Verlassen werden aus, die bei einem Nähemenschen ohnehin eingespurt ist.

Bei diesem Partner bleibt der Wunsch nach Nähe erhalten und verstärkt sich sogar, den sein (Prinzipiell ebenfalls vorhandenes) Distanzbedürfnis springt nicht an - für Distanz hat der andere bereits gesorgt (bedfriedigte Bedürfnisse werden ja nicht gespürt, permanent befriedigte Bedürfnis in ihrer Existenz nicht einmal erkannt). Seiner Angst und seinen Nähe wünschen entsprechend wird er sich nun um den anderen bemühen - und so kann ein Teufelskreis in Gang kommen. Der Distanzierte fühlt sich verfolgt und verschlungen, seine eingespürte Angst vor Abhängigkeit und Selbstverlust wird geweckt, lässt ihn flüchten und größeren Abstand nehmen. Nicht, dass er kein Bedürfnis nach Nähe hätte: solange dies jedoch so intensiv von seinem Partner gelebt wird, wird er seine eigene Anhänglichkeit nicht spüren.

Dies ändert sich schlagartig wenn der Nähe-Partner abgekämpft, zermürbt und in seinen Gefühlen erkaltet, seine Nachstellungen aufgibt und sich abwendet: Nun kann der Distanzierte seinen Gegenpol wieder spüren, und zwar übermächtig - und es geht in die nächste Runde, aber plötzlich mit vertauschten Rollen.

Halten wir fest: was von außen den Eindruck macht, als hätten ein Distanzierter und ein Anhänglicher sich zusammengefunden, erweist sich bei näherem Hinsehen als Polarisierung einer gespaltenen Ambivalenz. Mit gespaltener Ambivalenz ist gemeint: jeder hat beides in sich (Ambivalenz), anstatt aber die Gegensätze in sich zu vereinen, wird nur jeweils die eine Seite gelebt, die andere dem Partner überlassen: so polarisieren sich die Gegensätze, in der Bez. entsteht eine Art komplementärer seelischer Arbeitsteilung.